Warum gerade diese?
Michael Seibel • Ästhetik: Unbestechlicher Blickkontakt - Urteil des Paris (Last Update: 28.05.2014)
Die Spannweite des mit dem Wort „Ästhetik“ gemeinten ist
mehr als weit.
Womit also beginnen? Mit dem Anfang. Mit einem ersten Blick.
Der freundliche Blickkontakt einer Mutter mit ihrem Baby. Wer Kinder hat,
weiß, wie sehr in solchen frühen Kontaktsituationen der
Gesichtsausdruck der Mutter den Säugling bewegt. Und im Gegenzug zeigt das
Kind der Mutter, was es fühlt.
In westlichen Kulturen etwa ab dem 2ten oder 3ten
Lebensmonat. Das Kleine lächelt zurück.
Wie
man hört, soll das mitunter in Kamerun nicht ganz so sein. Dort
lächeln Babys ihre Eltern erst sehr viel später und nicht
so ausgeprägt an wie bei uns. So stellen es wenigstens
die
Entwicklungspsychologen Joscha Kärtner und Manfred Holodynski
(Uni Münster) nach Auswertung von Forschungsvideos von dort
fest. Es scheint, so meinen sie, einen Zusammenhang zwischen dem
Verhalten der Mütter und dem Lächeln zu geben. In Kamerun
tragen Mütter ihre Kinder zwar immer mit sich, aber eben auf dem
Rücken. Und sie haben deshalb wenig direkten Blickkontakt.
Dieser Zusammenhang soll auch verständlich machen, warum dort
das Spiegelstadium in der Kindheitsentwicklung später
auftreten kann, also das jubilatorische Erlebnis, bei dem sich das
Kleinkind im Spiegel selbst erkennt.
Was
das mit einer ästhetischen Grundausbildung zu tun hat, scheint
mir evident, denn zweifellos erleben das Baby und auch die Mutter,
sofern sie nicht durch äußere Einflüsse zu sehr in
Anspruch genommen wird, bei diesem gefühlvollen sich Beziehen
etwas Schönes und ausgesprochen Anregendes, ist es doch, wie
Psychologen uns berichten, schon ab dem dritten Lebensmonat zugleich
mit kognitiven Prozessen der Informationsaufnahme und Verarbeitung
verknüpft.
Der
Blickkontakt ist für das Baby nicht nur schön, sondern auch
hochinteressant. Die Verbindung von Interesse und Schaulust und
einer Lust am sinnlichen Kontakt ist so etwas wie der
Nukleus jeder Ästhetik.
Wäre
das Schöne ein See, so läge tief an seinem Grund ein
sprachloser glücklicher Augenblick.
Die
griechische Mythologie stellt die Schönheit in den Kontext der
Frage, wie es unter Göttern und Menschen zum Krieg kommen kann.
Bei
der Hochzeit des Peleus und der Thetis wirft Eris, die Göttin
der Zwietracht, einen goldenen Apfel zu Boden. Auf ihm steht
geschrieben: »Für die Schönste«.
Bewerberinnen
finden sich sofort: Hera, Athene und Aphrodite. Zeus hält sich
heraus, denn er erkennt sofort, dass er gar nicht in der Lage wäre,
den aufkommenden Streit zu schlichten, muß er doch auch in
Zukunft mit den Damen auskommen.
Ein
naiverer als er muss also gefunden werden. Er lässt die Damen in
die Wildnis zu Priamos' verlorenem Sohn, dem Hirten Paris führen.
Obwohl dieser nur die Schafe hütete, erkannte jeder dessen edle
Abkunft auf den ersten Blick an seiner außergewöhnlichen
Schönheit, Intelligenz und Stärke.
Hermes,
der die Göttinnen in die Wildnis begleitet, spricht ihn also an:
„Paris, da du so schön bist wie weise in
Herzensangelegenheiten, befiehlt dir Zeus zu urteilen, wer die
schönste dieser Göttinnen ist.“ Einen Rat dürfe
er dem Paris nicht mit auf den Weg geben, er solle einfach seinen
angeborenen Verstand gebrauchen. Man fragt sich, warum nicht seinen
Geschmack? Oder sind Verstand und Geschmack hier gleichwertig?
Paris
schaut sich die Bewerberinnen erst einmal nackt an, denn es gibt ja
wirklich etwas zu sehen. Athene bestand nun darauf, dass Aphrodite
auch ihren berühmten magischen Gürtel abzulegen habe, der
bewirkte, dass sich jeder sogleich in sie verliebte, der sie sah,
dann man sah das als unfair an.
Und
als die Präliminarien leidlich geklärt waren, bestand
Hermes darauf, die Damen noch einmal einzeln zu sehen und zu
sprechen, ohne dass ihm die anderen hineinreden.
Hera war die erste, und ab hier beginnt eine Kette von etwas, was für
uns aussieht wie Bestechung. „Wenn du mich erwählst“,
so Hera, „mache ich dich zum Herrn über Asien und zum
reichsten lebenden Mann.“
Und auch Athene, die sich als nächste der Begutachtung zu stellen
hatte, versuchte es mit Bestechung, indem sie ihm ewiges Kriegsglück
versprach. Aphrodite als letzte versprach ihm, dass er die schönste
Frau auf Erden, Helena, Ledas schöne Tochter, als Ehefrau
gewinnen werde. Die sei zwar schön verheiratet, aber wie er
wisse, sei es ihre Kernkompetenz, solche Dinge zu regeln.
Wie Paris sich entschied, ist bekannt. Dass es sich um ein Urteil in
Sachen Schönheit, mithin um ein ästhetisches Urteil
handelt, ist ebenfalls klar.
Um Schönheit geht es in der Geschichte gleich mehrfach. In Bezug
auf Paris selbst. Ein Blick auf ihn, und man erkennt sofort nicht nur
seine Schönheit, sondern durch sie wird sogleich auch seine edle
Abkunft sinnfällig bewiesen. Diese ist sozusagen die notwendige
Konsequenz aus etwas Sichtbaren. Machen wir uns klar, dass wir hier
gerade die griechisch-mythologische Version eines ästhetischen,
induktiven Urteils vorgeführt bekommen. Aber zurück zu
dessen Inhalt:
Das Problem bei den Göttinnen: Sie sind alle ganz unbeschreiblich
schön. Was soll man tun. Die Frage „Warum gerade diese?“
wäre leicht zu beantworten, wären da nicht noch die beiden
anderen.
Wenn Paris jetzt aufgrund weiterer Dreingaben entscheidet, kann ihm der
griechische Mythos kaum den Vorwurf der Bestechlichkeit machen
wollen. Schließlich ist Zeus in Bezug auf Paris umfassend im
Bilde und weiß, was er sagt, wenn er ihn wegen seines
nachgewiesenen Geschicks und seiner Fairness und Sachkunde beim
Vermitteln schwieriger Streitfälle auswählt. Mit Paris
verspricht er seinen Damen einen Richter, der auf keinen Fall
sachfremd urteilt. Da ist er im Wort. Und wie wir gleich sehen werden,
wird ihn Paris nicht darin hintergehen.
Denn im Nachdenken zeigt sich: Paris ist unbestechlich. (Wäre das
nicht so gemeint, dann wäre Zeus wortbrüchig und die
Götterdämmerung von Wagner Wotan kurzerhand dreitausend
Jahre in die griechische Mythologie zurück verlegt.) Worauf Paris selbst auch jeder der Göttinnen
gegenüber energisch besteht. Sich Helena versprechen zu lassen
nicht als Bestechung zu werten, mag überraschen, ist doch
Bestechlichkeit nach deutschem Recht die Annahme eines Vorteils als
Gegenleistung für die Vornahme einer Amtshandlung. Mehr Bestechlichkeit scheint nicht möglich. Aber …
Verhandlung in Sachen Paris wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit:
1) Paris trifft eine absolut sachgerechte Entscheidung. Denn indem die
Schönheit selbst ein Glücksversprechen darstellt (und nicht
einfach nur eine flüchtige optische Beschaffenheit von
Körpern) ist in der Tat die Schönheit die schönere,
die am meisten Glück verspricht. Paris addiert durchaus nicht
Äpfel mit Birnen, wenn er die jeweiligen Zusatzversprechen den
optischen Vorzügen der Göttinnen hinzuaddiert. Aphrodite
ist die schönste, weil ihr Glücksversprechen am schwersten
wiegt, offenbar ein Effekt, ohne den Schönheit
weder in der Antike noch
heute zu denken ist.
2) Paris muss vom Vorwurf der Bestechlichkeit freigesprochen werden.
Schönheit ist ein Glücksversprechen. Es soll beurteilt werden, wo am
meisten versprochen wird. Aber ein Versprechen, das schlechthin
angenommen werden muss, so wie das Lächeln der Mutte vom Kind und nicht wie eine Bestechung abgelehnt werden darf.
3) Über Schönheit kann also nicht von Amts wegen geurteilt
werden. Die Bereicherung, die sich Paris erlaubt, ist nicht
geeignet, Verpflichtungen zu verletzen, die er Dritten, den
Himmlischen oder den Menschen gegenüber haben könnte.
Wenn hier überhaupt von Verpflichtung zu reden ist,
dann begründet Schönheit eine Verpflichtung sich selbst gegenüber.
Helena abzulehnen hieße, das Leben selbst zu verfehlen.
Wenn das, was es zu sehen gibt, die sinnliche Seite des Blicks, Gewicht
bekommt, so beschließt die Dignität des Blicks eine Fülle
von Konnotationen ein, Begehren, Glücksversprechen, Liebe,
Macht, Status, Zwietracht und Eitelkeit, die ganze Mannigfaltigkeit
der genealogischen Verhältnisse der Akteure untereinander. Ohne
all das hätte
ästhetische Erfahrung keine Chance, Erkenntnis zu liefern, was sie ständig tut.
(Ob und wie Ästhetik und Erkenntnis zusammengehen, ist nach wie vor spannend und philosophisch kontrovers.)
Jedenfalls sieht sich Paris in der Lage, die Frage zu entscheiden, „Wer
ist die schönste?“, indem er sowohl hinsieht als auch
zuhört. Fundament des ästhetischen Urteils ist also nicht
allein der Blick.
Was hört Paris? Reichtum, Macht und Schönheit haben einen
gemeinsamen Nenner als allesamt Glücksversprechen. Aber sie
haben gerade auf dieser Grundlage unterschiedliche Werte. Und
weil es sich um Werte handelt, mischt die Göttin der Zwietracht
mit und kann die Suche nach der Schönsten fast
übergangslos
in den Trojanischen Krieg führen.
Paris hat ein ästhetisches Urteil zu fällen und damit zu
präferieren; das Baby hingegen treffen wir in einem so frühen
Alter und in einer Situation an, in der es noch nicht zu wählen
gezwungen ist.
Aber schon ein paar Monate später (René Spitz spricht von
der „Achtmonatsangst“), finden wir das Kleine fremdelnd
vor. Die Fremdeln schützt es freilich, da es inzwischen gelernt
hat, sich krabbelnd aktiv von der Mutter wegzubewegen. Dies Fremdeln,
so sagt man, sei anders als das Lächeln kulturübergreifend,
wenn auch individuell ganz unterschiedlich ausgeprägt und
unabhängig davon, ob das Kleinkind vorher Kontakt mit Fremden
hatte oder nicht. Es scheint sich um eine angeborene Verhaltensweise
zu handeln, aber schon greifen erste Codierungen ausformend ein. Auch
hier scheint es auf die Bezugspersonen anzukommen, ob sich das Kind
in dieser Phase erlaubt, sich von der Mutter zu entfernen und mit dem
Fremden faszinierten Kontakt aufzunehmen.
Die
Kontaktaufnahme mit Fremdheit wird zum Moment des Ästhetischen,
die vermutlich nicht weniger archaisch ist als die mit dem Glück.
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